J. Annola u.a. (Hrsg.): Med tvål, vatten och flit [Mit Seife, Wasser und Fleiß]

Cover
Titel
Med tvål, vatten och flit. Hälsofrämjande renlighet som ideal och praktik ca 1870–1930


Herausgeber
Annola, Johanna; Drakman, Annelie; Ulväng, Marie
Erschienen
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
SEK 239
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jay Geier, Abteilung für Skandinavistik, Universität Wien

Die COVID-19-Pandemie führte dazu, dass sich die Aufmerksamkeit aller schlagartig auf alltägliche Hygienepraktiken richtete. Dabei musste etwa das für viele Menschen neue und ungewohnte Tragen einer Mund-Nasen-Maske erst eingeübt werden, doch auch vermeintlich etablierte Tätigkeiten wie das richtige Händewaschen wurden auf die Effektivität ihrer Ausführung hin überprüft und auf diese Art entroutinisiert. Die grundlegende Tatsache, dass die Reinigung von Körpern und Oberflächen den gesundheitlichen Gefahren, die mit einer Infektion einhergehen, vorbeugen kann, stand in ihrer scheinbaren Normalität und Selbstverständlichkeit aber stets außer Frage.

Der von Johanna Annola, Annelie Drakman und Marie Ulväng herausgegebene Band „Med tvål, vatten och flit. Hälsofrämjande renlighet som ideal och praktik ca 1870–1930“ [Mit Seife, Wasser und Fleiß. Gesundheitsfördernde Reinlichkeit als Ideal und Praxis ca. 1870–1930] nimmt sich der Zeit der Entstehung und Verbreitung just dieser Auffassung in den Jahrzehnten um 1900 an. Gefragt wird dabei nach den Akteur:innen, Prozessen und Praktiken, die das Wissen um den Zusammenhang zwischen Reinigung, Krankheit und Gesundheit in den nordischen Ländern prägten und verbreiteten. Den Anstoß für die vorliegende Anthologie gab eine Konferenzsession zum Thema Huslighet och hälsokonsumtion [Häuslichkeit und Gesundheitskonsum], die 2017 auf dem Nordischen Historiker:innentreffen im dänischen Aalborg und damit einige Jahre vor Pandemiebeginn stattfand. Der Titel der Publikation verweist bereits auf zentrale Interessenspunkte des Bandes. So werden nicht nur die Mittel und Materialien, die Praktiken und deren Ausführende im Zusammenhang mit gesundheitsfördernder Reinlichkeit betrachtet, sondern insbesondere die Spannungen zwischen Sauberkeitsidealen und ihrer Umsetzung in der Praxis aufgezeigt. Gleichzeitig werden die (Neu-)Verhandlungen der Verhältnisse zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Stadt und Land, Individuum und Gesellschaft in den Blick genommen, die im Kielwasser dieser Umbrüche vonstatten gingen.

Die insgesamt zehn Beiträge nordischer Forscherinnen aus unterschiedlichen Bereichen der Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Folkloristik befassen sich mit Fallbeispielen aus Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden und setzen dabei, dem Format Sammelband entsprechend, unterschiedliche Schwerpunkte. Die Untersuchungsgegenstände bewegen sich von der Etablierung öffentlicher Badeanstalten, insbesondere Saunen, und der Einführung regelmäßiger Körperpflege in Schulen (Karolina Wiell) über genderspezifische Häuslichkeitsideale, wie sie in Kontaktanzeigen Ausdruck fanden (Josefin Englund) bis hin zur Entwicklung lebensmittelbezogener Hygienepraktiken auf Marktplätzen (unter anderen Hanna Lindberg). Ein Surplus zur bestehenden Forschung wird zum einen durch den nordeuropäischen Fokus geleistet, der die Perspektive eines zwar viel beforschten, aber vor allem angelsächsisch und zum Teil französisch dominierten Feldes erweitert. Zum anderen ist es den Herausgeberinnen zufolge insbesondere das Augenmerk auf praktische Aspekte und untererforschte soziale Gruppen, das diese Anthologie von anderen Arbeiten zum goldenen Zeitalter der Hygiene abhebt. Durch diese Ausrichtung tritt in einigen Beiträgen ebenso der hygienegeschichtliche Klassenaspekt deutlich hervor, so etwa in Minna Harjulas Studie zur finnischen „hälsomedborgarskap“ [Gesundheitsstaatsbürger:innenschaft] und der Hygieneerziehungsbewegung, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche von der Forderung nach umfangreicherer staatlicher Gesundheitsversorgung verdrängt wurde.

Die Zeitspanne von etwa 1870 bis 1930, der sich die Anthologie ihrem Untertitel zufolge annimmt, ist entsprechend der einschneidenden Umbrüche im allgemeinen Hygieneverständnis, die zu jener Zeit stattfanden, gewählt und scheint daher den Zielsetzungen der Untersuchungen angemessen. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass viele der Kapitel diese Zeitspanne unter- oder überschreiten. Der „ca.“-Angabe der Periodisierung wird mitunter derart große Flexibilität abverlangt – am auffälligsten in Inger Lyngdrup Nørgårds Beitrag, der das Engagement bürger:innengetragener Initiativen für bessere Wohnungshygiene behandelt, aber mit einem Untersuchungszeitraum von 1935 bis 1965 gänzlich aus der von der Anthologie angestrebten Periode herausfällt –, dass eine präzisere Angabe wünschenswert gewesen wäre.

Die thematisch gruppierten Kapitel entwickeln das übergeordnete Thema Sauberkeit und Hygiene auf drei unterschiedlichen Ebenen, nämlich 1. Körper, 2. Haushalt, Heim und Familie, und 3. Bürger:inneninitiativen und Kontakt unterschiedlicher sozialer Gruppen. Diese Einteilung geht allerdings nur aus der Einleitung hervor; im Inhaltsverzeichnis spiegelt sie sich nicht wider. Im Folgenden sollen drei der Beiträge herausgehoben und näher beleuchtet werden, um die thematische Spannweite der Anthologie zu illustrieren. Annelie Drakman zeichnet im Kapitel „Utrökt eller avsköljd. Övergången från rök till vatten som rengörande substans bland svenska läkare under 1800-talets slut“ [Ausgeräuchert oder abgespült. Der Übergang von Rauch zu Wasser als reinigende Substanz bei schwedischen Ärzten am Ende des 19. Jahrhunderts] nach, wie und unter welchen Voraussetzungen die lange Zeit verbreitete Reinigungspraktik des Ausräucherns durch die Verwendung von Wasser als hauptsächliches Agens des Saubermachens ersetzt wurde. Als Quelle dienen hierbei die Berichte schwedischer Provinzärzte, die der Autorin zufolge in besonderem Maße dafür geeignet seien, die alltäglichen Praktiken der Bevölkerung nachzuvollziehen. Um Ansteckungen durch miasmatische Fäulnisgerüche zu verhindern und Innenräume zu reinigen, dienten der Rauch von Wacholderreisig, Teer oder auch Essigdämpfe. Damit Wasser und Seife diese Praktiken ersetzen konnten, musste sich zunächst ein Verständnis des Körpers als geschlossen etablieren. Erst dann konnte die Haut anstelle einer Schleuse ins Körperinnere als eine Schutzschicht begriffen werden, die von Wasser abgespült, aber nicht durchdrungen werden kann. Dieses neue Verständnis verbreitete sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, und die Verwendung von Wasser und Seife für die Reinigung von sowohl Räumen als auch Körpern konnte sich durchsetzen.

Der Beitrag von Marie Ulväng dokumentiert, wie neue Reinlichkeitsideale auch eine größere Arbeitslast im Haushalt mit sich brachten, die vor dem Hintergrund zunehmender Arbeitsteilung entlang von Gendergrenzen vorrangig Frauen traf. Durch den von Ulväng gewählten Fokus auf bäuerliche Haushalte in der schwedischen Region Härjedalen gegen Ende des 19. Jahrhunderts treten diese Veränderungen deutlich hervor. Hellere und nach Funktionen getrennte Wohnräume und die zunehmende Verbreitung verschiedenster neuer Heimtextilien trugen dazu bei, dass ein Verständnis von Sauberkeit im Sinne der Abwesenheit sichtbarer Verunreinigungen an Wichtigkeit gewann. Ulväng konkludiert auf Basis ihres Untersuchungsmaterials jedoch, dass Hygiene im Sinne der Entfernung unsichtbarer Krankheitserreger in den Bauernhaushalten des Härjedalen erst im frühen 20. Jahrhundert an Bedeutung gewann. Die neuen Praktiken der Reinigung von Heim und Körper wurden zunächst vielmehr aus kulturellen und ökonomischen Gründen, darunter Verfügbarkeit und Leistbarkeit neuer Waren sowie die Aneignung von Praktiken des Bürgertums, übernommen.

Zuletzt sei das Kapitel von Karin Carlsson hervorgehoben, das sich mit zwei Heimausstellungen der Gefle Husmodersforening [Gävle Hausfrauenverein] in den 1920er- und 1930er-Jahren und insbesondere den dort ausgestellten Küchen befasst. Indem Haushaltsgegenstände und Kücheneinrichtungen als Quellen im Sinne materieller Kultur herangezogen werden, lassen sich die neuen Reinlichkeitsideale in materialisierter Form erkennen und Erwartungen an neue Reinigungspraktiken ablesen. Allerdings zeigen sich gleichzeitig die daran gekoppelten umfangreichen Voraussetzungen ökonomischer, baulicher und sozialer Natur, die der Verbreitung solcher moderner ‚Laboratorien für Küchenwissenschaft‘ (so die zeitgenössischen Kommentatoren in der Lokalpresse) im Wege standen.1 Besonders interessante Querverbindungen ergeben sich aufgrund der Materialitätsorientierung zwischen Carlssons Beitrag und Ingun Grimstad Klepps Ansätzen zu einer Kulturgeschichte des Küchenlappens.

Ein leider unterentwickelter Aspekt in der Anthologie ist der gesamtnordische Bezug, der sich – obschon in der Einleitung dezidiert als eines der Ziele ausgewiesen – in den meisten Kapiteln auf einige Querverweise zwischen den Ländern beschränkt und hinter nationalen Bezugspunkten zurückbleibt. Überdies finden nicht alle Beiträge gleichermaßen den Anschluss an den Gesundheitsaspekt. Johanna Annolas Untersuchung eines finnischen Armenhauses illustriert etwa, wie Schmutzigkeit und Ungeziefer von den Bewohner:innen als Druckmittel gegen eine unliebsame Vorständin instrumentalisiert werden konnten. Mangels direkter Verweise auf gesundheitliche Themen in den von ihr untersuchten Dokumenten muss sich Annola allerdings mit der Argumentation begnügen, dass „mellan raderna kann man även här läsa in en koppling mellan smuts och sjukdomar – och renlighet och hälsa“ [zwischen den Zeilen kann man auch hier eine Verknüpfung zwischen Schmutz und Krankheiten – und Reinlichkeit und Gesundheit – hineinlesen]. (S. 81) Im Prinzip ist dies der Qualität der Publikation aber nicht abträglich, da das Gesamtbild, das in seiner Breite ohnehin nicht repräsentativ sein kann oder will, gerade von der Vielfalt seiner Einzelaspekte profitiert.

Insgesamt stellt Med tvål, vatten och flit einen äußerst interessanten, anregenden und überdies angenehm zu lesenden ideen-, sozial- und kulturgeschichtlichen Beitrag zur Hygienegeschichte des Nordens dar, der auch wichtige Kontexte für Fragestellungen zu Körper, Gender und Klasse offenbart.

Anmerkung:
1 Mit kultur- und hygienegeschichtlichen Aspekten der schwedischen Küche befasst sich auch der Band von Ulrika Torell, Jenny Lee und Roger Qvarsell (Hrsg.), Köket. Rum för drömmar, ideal och vardagsliv under det långa 1900-talet [Die Küche. Raum für Träume, Ideale und Alltagsleben während des langen 20. Jahrhunderts], Stockholm 2018; vgl. dazu die Rezension von Anna Derksen, in: H-Soz-Kult, 14.06.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28144 (23.11.2023).